Der MI6 lebt vom Mythos James Bond – die Realität ist nüchterner (2024)

Der frühere Geheimdienstchef Alex Younger erzählt, weshalb die 007-Lizenz zum Töten aus dem Reich der Phantasie stammt, aber manchmal selbst die eigene Schwiegermutter als Geheimwaffe Wunder wirken kann.

Andreas Rüesch

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Der MI6 lebt vom Mythos James Bond – die Realität ist nüchterner (1)

Der britische Auslandgeheimdienst MI6 ist in der öffentlichen Wahrnehmung untrennbar mit den James-Bond-Filmen verbunden. Der im Kampf um Frauenherzen und gegen Bösewichte aller Art unschlagbare Agent 007, sein Chef M und der erfindungsreiche Leiter der Abteilung für Spezialausrüstung, Q, prägen das verbreitete Bild davon, wie Spione ihrer Arbeit nachgehen. Mit der Wirklichkeit hat es wenig zu tun. Auf die Frage, wie oft er mit einem Aston Martin über zusammenbrechende Brücken im Hindukusch gebraust sei, lacht Alex Younger nur. «Wir haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesen Filmen», sagt Younger, der den MI6 von 2014 bis 2020 geleitet hat und davor selber als Undercover-Geheimdienstoffizier aktiv war.

Keine «Lizenz zum Töten»

Einerseits sei es grossartig, dass James Bond den MI6 «berühmter als Pepsi» gemacht habe, sagt Younger bei einem Gespräch am Rande des Swiss Economic Forum in Interlaken. Anderseits stehe der Bond-Mythos stark in Widerspruch zur Realität. Der Secret Intelligence Service, wie der MI6 offiziell heisst, müsse in Einklang mit britischen Werten und Gesetzen vorgehen, betont Younger. 007 verkörpere Mut und Patriotismus, aber bei der emotionalen Intelligenz hapere es wohl.

Musste er selber jemals tödliche Gewalt anordnen? Younger weicht der Frage aus. Eine «Lizenz zum Töten», wie sie in der fiktiven Vorlage die 00-Agenten besitzen, gebe es natürlich nicht, hält der frühere Geheimdienstler fest. Als MI6-Vertreter in Kabul habe er nicht mehr Kompetenzen zur Gewaltanwendung gehabt als jeder normale Mensch, also faktisch einfach ein Recht auf Selbstverteidigung. Anders sehe es bei Operationen in einem militärischen Umfeld aus, an denen der Geheimdienst beteiligt sei. Das sei Krieg, und solche Aktionen könnten tödlich sein.

«Wir machen grobe Sachen», sagt Younger, ohne sich im Gespräch irgendwelche Details entlocken zu lassen, aber alles müsse in Übereinstimmung mit dem Kriegsvölkerrecht geschehen. Wie ein Haudegen wirkt der 58-Jährige nicht. Nicht einmal ein rauer schottischer Akzent kommt über die Lippen des früheren Offiziers bei den Royal Scots, einem Infanterieregiment. Sir Alex, wie er seit seiner Erhebung in den Adelsstand heisst, spricht mit dem geschliffenen Englisch der britischen Elite.

Ein Geheimdienst, den es offiziell gar nicht gab

Er tut dies zugleich mit einem Charme, der ihm bei so manchem Anwerbeversuch geholfen haben dürfte. Younger selber trat laut der offiziellen Biografie 1991 dem MI6 bei. Während der Geheimdienst heute im Internet offen um Mitarbeiter wirbt, war dies vor drei Jahrzehnten noch anders. Offiziell gab es den Dienst gar nicht – seine Existenz wurde von der Regierung erst 1994 anerkannt. Daher konnte man sich auch nicht für eine Agentenkarriere bewerben, sondern nur auf Anfrage eintreten. Younger erhielt den berühmten «Tipp auf die Schulter», als er für eine internationale Hilfsorganisation – den auf Minenräumungen spezialisierten Halo Trust – in Afghanistan arbeitete.

Der MI6 lebt vom Mythos James Bond – die Realität ist nüchterner (2)

Spätere Stationen waren Wien, verschiedene Posten im Mittleren Osten und in Kabul, wo er nach eigenen Angaben von 2007 bis 2009 die MI6-Vertretung in Afghanistan leitete. Gegen aussen spielte er den Diplomaten, wie das in der Welt der Spione eine häufige Praxis ist.

Erst mit seiner Ernennung zum Chef des Dienstes 2014 verlor er seinen Deckmantel – und hatte gegenüber Freunden einiges an Erklärungsarbeit zu leisten. In vielem ist der MI6 noch zugeknöpfter als sein amerikanisches Pendant, die für ihre Verschlossenheit bekannte CIA. Aber auch am Vauxhall Cross, dem festungsartigen MI6-Hauptquartier an der Themse, ändern sich die Zeiten. Younger war der erste MI6-Chef, der in die Aufzeichnung eines Interviews einwilligte. Heute, ein Jahr nach der Pensionierung und als privater Berater für Fragen der Cybersicherheit, scheut er die Öffentlichkeit erst recht nicht mehr.

Die Macht der grünen Tinte

Auch wenn James Bond ein blosser Mythos ist, pflegt der MI6 seine kuriosen Traditionen. Eine davon ist, dass sein Chef stets mit grüner Tinte schreibt und intern nur als «C» bekannt ist. Eine Anordnung mit diesem einen, grünen Buchstaben als Unterschrift strahle eine eigentümliche Macht aus, behauptet Younger. Und die Bondschen Geheimwaffen?

Younger nennt nur eine, und sie ist wohl eher dem Lowtech-Bereich zuzuordnen: In Kabul sei es für ihn lange Zeit schwierig gewesen, offene Türen beim damaligen Präsidenten Hamid Karzai zu finden – bis er herausgefunden habe, dass dieser seinem Tee gerne Konfitüre beifüge, um Erkältungen vorzubeugen. Da sei ihm der exzellente «blackcurrant jam» seiner Schwiegermutter zu Hilfe gekommen. Dank diesem Mitbringsel habe er regelmässige Einladungen in den Präsidentenpalast erhalten. Das habe wohl Milliarden von Dollar an Militärhilfe aufgewogen, mit denen andere Länder um Karzais Gunst gebuhlt hätten.

Wie für viele Erzählungen aus der umnebelten Welt der Geheimdienste gilt auch hier: Wenn es nicht wahr ist, so ist es gut erfunden.

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Christin Severin, Interlaken

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